45. Der große Abschied

Eine Frage, die sich allmählich trotz der zaghaften kontinuierlichen Besserung in mir anstaute war: Was wird mit meiner Stelle in meinem Orchester? Die letzten Monate waren endlich einmal geprägt von einem steten Anstieg meiner gesundheitlichen Verfassung. Aber ich musste einsehen, dass diese Verbesserung so sehr in Zeitlupe stattfand, dass eine Wiedereingliederung in absehbarer Zeit auf meiner Stelle utopisch war. Mein Zustand verbesserte sich nur, so lange ich meinem Körper alles gab, was er in diesem Moment brauchte. Und vor allem war das Ruhe. Jede Art von Reizung brachte sofort die Stagnation bzw. auch die Verschlechterung von der ich mich immer erst unnormal lang erholen musste. Was nun folgte, war vielleicht die schwerste Einsicht, zu der ich während meiner Krankheitszeit gekommen war. Meine Traumstelle in dem Orchester, in dem ich mich so wohl fühlte, konnte ich nicht mehr wieder besetzen. Ich spürte genau, dass mein Körper das nicht schaffen würde und die blockierten Selbstheilungskräfte würden wohl nicht zu neuer Stärke finden, wenn ich mich da irgendwie durch eine halbe Stelle quälen würde. So wäre eine wirkliche Heilung auch niemals möglich. Aber die vollständige Heilung wollte ich nunmal und keine Quälerei um jeden Preis, wo gar nicht abzusehen war, ob ich das überhaupt eine Woche durchgehalten hätte. Ich versuchte in den letzten drei Jahren mehrmals eine Wiedereingliederung und musste sie jedes Mal abbrechen, weil sich mein Zustand schon unter geringster Belastung rasant verschlechterte. Und so traf ich den für mich wirklich schwersten Entschluss seit Jahren:

Ich gab meine Stelle frei.

 

Hier muss ich anfügen, dass es ein hartes Auswahlverfahren gibt, eine solche Stelle zu bekommen. Es gibt viel mehr Absolventen, als feste Stellen im Orchester und die Bewerbungen auf eine solche Stelle kommen inzwischen aus der ganzen Welt. So kommen auf eine Stellenausschreibung meist 150 Bewerbungen, davon werden vielleicht 40 zum Probespiel eingeladen. Am Tag des Probespiels wird eine Vorspielreihenfolge festgelegt und los gehts. Wenn man Pech hat, wartet man 3 Stunden, bis man endlich 5min zum Vorspielen bekommt. Und das ist erst die erste Runde. Nach dieser werden die meisten Teilnehmer schon nach Hause geschickt. Wenn z.B. 25 Leute die erste Runde gespielt haben, dann bleiben davon meist nur 3-6 für die zweite Runde übrig. Dort spielt man dann etwas anderes vor. Klavierbegleiter werden gestellt und man spielt dort auf Risiko mit einem Pianisten, der nicht weiß, wie man das jeweilige Stück interpretiert. Da muss man einfach ganz bei sich bleiben und sich nicht ablenken lassen, wenn da am Klavier etwas Ungewohntes zu hören ist. In der ersten und zweiten Runde gibt es eine kleine Auswahl an Pflichtstücken. So sind die Klavierbegleiter doch oft sehr flexibel und kennen die Stücke gut. Nach der zweiten Runde bleiben meist nur 2 Kandidaten übrig. Oft hat man dann schon 3 oder gar 4 Stunden Prozedur mit warten, fit halten, ablenken und wieder warten hinter sich. Nach der dritten Runde, in der Stellen aus der Orchesterliteratur zum alleinigen Vorspiel verlangt werden, entscheidet das Orchester per Abstimmung ob ein Kandidat in Frage kommt ein Probejahr anzutreten, oder ob die Stelle frei bleibt.

Ich hatte dieses Prozedere in meinem Orchester durchgemacht und blieb am Schluss der erleichterte und überglückliche Gewinner. Meine 29 Mitbewerber gingen an diesem Tag leer aus. So trat ich 2012 nach der Sommerpause dort die neue Spielzeit an, bestand das Probejahr einstimmig und erhielt danach meinen unbefristeten Vertrag. Das sollte nun hier und jetzt ein Ende finden. Das Spielen im Berufsorchester war für mich dann mit der Kündigung Geschichte. Eine Einladung zum Probespiel erhält man in der Regel nur bis man das 36. Lebensjahr vollendet hat. Es war also nicht nur, dass ich eine liebgewonnene Stelle, meine Stelle aufgab, nein,

ich gab den Beruf auf.

Als ich mir all dieser einschneidenden Konsequenzen bewusst war, traf ich trotzdem diese Entscheidung. Es war für mich einfach zu undenkbar, dass ich in diesem Gesundheitszustand diese wundervolle Arbeit bald wieder ausführen konnte. Außerdem belastete mich, dass ich derzeit aller paar Wochen wieder meinen Vorgesetzten mitteilen musste, dass ich immer noch nicht spielen konnte, und immer noch nicht, und immer noch nicht, und immer noch nicht. Und das seit 3 Jahren.

Ich war im Mai 2019 allein für ein Wochenende in unserem Gartengrundstück. Seit Wochen plagte mich dieses Gefühl, ich müsse nun endlich für mich eine Entscheidung treffen. Außerdem wollte ich um keinen Preis der Welt das Risiko eingehen, dass mein Orchester von sich aus einen Weg findet, mir zu kündigen. Das wäre eine Erniedrigung gewesen, die ich immer mit mir herumgetragen hätte. Wollte ich aus der Opferrolle herausschlüpfen, musste ich es nicht nur vor meiner Krankheit sondern auch hier tun. Ich wollte unbedingt der Schöpfer meines eigenen Lebens sein, die Zügel für mein Leben selbst in der Hand behalten und so blieb mir nichts anderes übrig, als Initiative zu ergreifen, bevor es jemand anderes tat. Im Garten konnte ich noch einmal ganz tief in mich hinein gehen und war mir dann sicher, dass ich die richtige Entscheidung traf.

An einem Samstag früh schrieb ich die entscheidende Mail an meinen Orchesterdirektor. Er antwortete mir postwendend so mitfühlend und freundlich, dass ich sehr gerührt war.

Es folgte zwar eine kleine Erleichterung und eine absolute Gewissheit, das Richtige getan zu haben aber von da an wollten unzählige Tränen aus mir heraus. Sogar nachts wachte ich auf und weinte weiter. Ich durchlebte die ganzen Jahre noch einmal, die ich dort gespielt hatte. Auch wie ich vorm ganzen Orchester in Freudentränen ausbrach, als mir damals der Orchesterdirektor vor versammelter „Mannschaft“ zum gewonnenen Probespiel gratulierte – das Glücksgefühl, es endlich in eines der besten Orchester Deutschlands geschafft zu haben. Erinnerungen an Tourneen, Begegnungen mit meinen Kollegen, musikalische Highlights. Das würde nun alles nicht mehr sein. Es gab für mich nichts Schöneres, als mitten in meinem Orchester zu sitzen und in der Energie der tosenden Musik zu baden. Das würde ich so sehr vermissen, da war ich mir sicher.

Ich war froh an diesem Wochenende einmal allein im Gartenhaus gewesen zu sein, so konnte ich meiner Trauer ganz ungehemmt freien Lauf lassen.

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