Drei Tage bevor mein Klinikaufenthalt begann, bekam ich doch einige Bedenken. Zu Hause konnte ich mir ja inzwischen meinen Speiseplan so zusammenstellen, dass nicht allzuviel „passierte“. Ich wusste, dass ich mein Getreide immer extrem lang kochen musste, vertrug außer Salz keine Gewürze und die Trennkost hielt die Kopfschmerzen in Schach. Aber in der Klinik würde ich das Essen vorgesetzt bekommen. Und bekanntlich wird ja gegessen, was auf den Tisch kommt…So hatte ich meine Bedenken, ob sich allein dadurch mein Zustand nicht verschlechtern würde. Aber irgendwann schaltete ich mein Denken aus und versuchte einfach zu vertrauen. In dieser Privatklinik würden sie wohl wissen, wie sie mir helfen konnten.
Am 4. Oktober 2016 fuhr mich mein Mann die drei Stunden mit dem Auto bis vor die Haustür der Klinik. Eine Fahrt mit dem Zug war in meinem Zustand undenkbar. Ich war sehr schwach, ich hätte einen Zeitlupenspaziergang von 7min geschafft mehr nicht. Von meinen ganzen anderen Symptomen ganz zu schweigen. Aber durch mein Vertrauen, dass irgendwann alles gut werden würde und meine Hoffnung, dass sie mir in dieser Klinik helfen würden war ich mental völlig entspannt. Wir fuhren irgendwann von der Autobahn ab und dann eine Stunde durch wenig besiedelte, leicht hügelige Landschaft mit Weinanbau bis ins scheinbare Nirgendwo. Das führte uns auf einer schmalen Straße entlang, die erst über ein paar Felder, dann mitten im Wald auf einem Parkplatz endete. Hier wollte mich mein Mann zurücklassen? Das war ja völlig am Ende der Welt! Ein etwas beklemmendes Gefühl überkam mich aber ich ermahnte mich zum Abwarten. Wir luden meinen Koffer und meinen kleinen Rucksack aus und gingen in die Ambulanz der Klinik in einem extra Trakt zur Anmeldung. Wir wurden sehr freundlich begrüßt, als wir kurz im Wartebereich Platz nahmen. Ich hatte als erstes noch etwas Schriftkram auszufüllen, was aber schnell erledigt war. Danach wurden wir durch die Klinik geführt. Zuerst kamen wir an der klinikeigenen Apotheke vorbei in der sich in offenen Regalen hunderte von Braungläsern mit lateinischer Aufschrift stapelten. Eine ganze Wand der Apotheke war mit Glas gestaltet, so konnte man immer einen Blick hinein werfen. Dann ging es durch eine Schiebetür zur Küche wo einige Köche und Köchinnen schon ein reges Treiben veranstalteten. Sogleich wurde die Diätassistentin gerufen und mit mir das Essen besprochen. Sie zeigte mir, dass es bei jedem Essen sogenanntes Schongemüse gibt, was nicht gewürzt wird, weil das viele Patienten nicht vertragen. Außerdem würden sie mir zum Frühstück eine Reissuppe servieren, die anderthalb Stunden gekocht hat. Das sei Standard bei so verdauungsschwachen Personen und würde sehr gut bekömmlich sein. Beim Mittagessen gab es warmes Buffetessen, man konnte immer zwischen drei verschiedenen Gerichten frei wählen. Ich war erstmal so erleichtert. Plötzlich kam ich mir nicht mehr so vor, als sei ich die Einzige mit solch einem Babymagen, der nichts verträgt. Die Diätassistentin bot mir zusätzlich an, falls ich mit dem angebotenen Essen nicht zurechtkäme einen individuellen Speiseplan für mich zu erstellen. Da war ich echt sprachlos. Ich war also gerettet. Verhungern würde ich hier also vermutlich erstmal nicht.
Von dem bisschen Rundgang war ich eigentlich schon total erschöpft und ich wollte mich schnellstmöglich irgendwo hinlegen. Aber es ging noch weiter. So wurde uns noch der Außenbereich gezeigt wo mir vor lauter Schönheit fast der Mund offen stehen blieb. Auf der angrenzenden Wiese mit einzelstehenden Bäumen wurde zum ersten Mal ersichtlich, dass wir uns auf einer großen Anhöhe befanden, die den Blick auf das weite darunterliegende Land öffnete. Es war traumhaft schön hier oben. Man hatte das Gefühl, man schaut auf die hinter uns gelassene hektische Welt zurück. Diesen Blick sollte ich nun vier Wochen lang genießen können und Liegestühle mit Decken standen einladend frei herum. Nun ging es zum Patientenwohnhaus. Wenn ich mich recht entsinne gab es Platz für ca. 60 Patienten. Nun stand noch die Ungewissheit aus, mit wem ich ein Zimmer teilen würde. Man konnte natürlich auch ein Einzelzimmer buchen, aber das hätte meine finanziellen Reserven noch schneller erschöpft. So hoffte ich auf eine gute Zimmermitbewohnerin, die weder schnarcht noch zu viel redet. Mir wurde das Zimmer gezeigt. Alles in der Klinik war sehr einfach aber mit Naturmaterialien ausgestattet. Es gab in der Ambulanz und der Apotheke viel Bambusstangen, Natursteinfliesen, im Essenraum viel naturbelassenes Holz mit dem Charme einer Berghütte und die Patientenzimmer hatten moderne verstellbare Klinikholzbetten und Parkett. Jeder hatte einen großen Sessel und einen Schrank im Flur des Zimmers. Teilen mussten wir nur das Bad und einen großen Tisch. Das Zimmer hatte eine Front aus Fenstern mit einem schönen großen Balkon. Die großen Bäume machten es ein wenig düster. Meine zukünftige Zimmerpartnerin war gerade ausgeflogen. Aber an ihren Sachen sah ich, dass es keine ältere Dame sein konnte. Rosa Turnschuhe und ein flotter Kapuzenpullover auf dem Stuhl verrieten mir, dass es eine junge Frau sein musste. Da kam sie dann auch schon neugierig zur Tür hinein und ich wusste auf den ersten Blick: das passt! Wir stellten uns kurz vor und ein Stein der Erleichterung fiel von meinem Herzen. Schließlich musste ich es jetzt vier Wochen mit ihr hier auf den 20qm aushalten. So konnte ich mich auch gut von meinem Mann verabschieden, der jetzt wieder die Heimreise antreten wollte. Ich begleitete ihn, obwohl ich eigentlich viel zu schwach war, noch zum Parkplatz, wo ich ihn noch verabschiedete. Mir rollten dann doch die Tränen, weil ich mich so allein und in der Fremde zurückgelassen fühlte. Ich wusste ja noch überhaupt nicht, was hier auf mich zukommen würde. Schon wenn man das Wort „Klinik“ hört, denkt man immer an viel Krankheit und strenge anonyme Ärzte mit unangenehmen Behandlungen. Aber diese Klinik war irgendwie anders. Ich hatte auch noch niemanden mit weißem Kittel gesehen und das war mir sehr angenehm. Der erste Eindruck war eher, als wäre es ein „Therapiehotel“. Und so versuchte ich es erstmal zu sehen, als ich die Rücklichter unseres Mietwagens langsam auf dem schmalen Waldweg verschwinden sah. Ich betete zu Gott, dass mein Mann wieder heil zu Hause ankommen würde.
Plötzlich allein und die Tränen weggewischt, fühlte ich in mir eine gewisse Aufbruchstimmung. In Gedanken krämpelte ich meine Ärmel hoch und wollte mich die kommenden vier Wochen mit Gesundwerden beschäftigen, in der Hoffnung hier die richtige Anleitung zu bekommen. Alles war offen. Hier lag eine Chance für mich zum Neuanfang.
Ich hatte noch keine Zeit zum Ausruhen und schleppte mich die zum Glück sehr überschaubaren Wege innerhalb des Klinikgeländes zu meinem ersten Arzttermin. Mir wurde eine junge deutsche TCM-Ärztin zur Seite gestellt, die studierte Kinderärztin war, die sich später auf Traditionelle Chinesische Medizin spezialisiert hatte. Sie würde mich ab nun täglich treffen, um mit mir die Behandlung anzupassen. Die Erstanamnese dauerte über eine Stunde und ich war wieder so überwältigt mit welcher Genauigkeit nach meinen Symptomen gefragt wurde. Ich hatte inzwischen schon viel über TCM-Diagnostik und Krankheitsmuster nach TCM gelernt und hatte durch meine Erfahrung mit dem Chinesenmann und der echten Chinesin ein ungefähres Bild meiner ganzen Syndrome. Die bestätigten sich auch jetzt wieder und das Behandlungskonzept wurde mit mir besprochen. Dabei brach ich wieder in Tränen aus. Aber nicht vor Kummer, sondern vor Erleichterung. Nach diesem Termin hatte ich das Gefühl, dass hier endlich mal Licht ins Dunkel kommen würde und ich mich endlich aufgehoben und sicher fühlen konnte.
Noch eine enorme Erleichterung bei dem ich gleich nochmal hätte in Tränen ausbrechen können war das Mittagessen. Hier gab es so viel Auswahl, dass ich problemlos und so lecker beköstigt satt wurde. Herrlich. Das entspannte mich erstmal total und nach dem Essen fiel ich erstmal wie tot in mein Bett. Ich schloss die Augen und mir gingen die Bilder des Geländes, der freundlichen Schwestern und meiner kompetenten, verständnisvollen Ärztin und des äußerst schmackhaften vegetarischen Essens noch einmal durch den Kopf. Heute nachmittag würde ich schon meinen ersten individuell erstellten Kräutersud, mein Dekokt bekommen. Ich war gespannt. Es war wirklich eine Oase. Eine Oase zum Gesundwerden inmitten der Natur.
Dann schlief ich erstmal einen tiefen, langen Mittagschlaf.