20. Die Wahrheit ist nicht immer leicht

Ende Oktober 2016

Nach einer Woche in der Klinik hatte ich mich schon richtig eingelebt. Mit meiner Zimmerpartnerin verstand ich mich sehr gut und wir erzählten am Abend nachdem alle Gesundheits-Termine abgeschlossen waren viel über das was mit uns hier so angestellt wurde. Jeder von uns bekam seine individuelle Behandlung wovon die Kräutertherapie und die Akupunktur bzw. Körpertherapie die Wichtigsten waren. Unser Tag begann immer um 7:30 Uhr mit einer halben Stunde QiGong im großen Saal. Danach gab es Frühstück im Speiseraum. Bevor es dann zum Arzttermin ging war meist noch eine halbe Stunde Zeit zum Ausruhen auf dem Zimmer. Das kam uns sehr recht, meine Zimmerpartnerin hatte auch diese seltsame Schwäche und sehr viele der Symptome, die mir auch schrecklich vertraut waren.

Aller drei Tage gab es Visite aller Ärzte der Klinik. Wir wurden also einzeln in einen Raum geführt, wo wir wie vor dem Gericht auf einem Stuhl Platz nahmen, um selbst noch einmal unsere Symptome zu benennen und zu sagen, was sich während des Aufenthaltes verbessert oder verschlechtert hatte. So saßen jedes Mal ungefähr neun TCM-Ärzte um mich herum. Das lustigste Ereignis dieser Visiten war, wenn der Chefarzt mich nach der Pulsdiagnose darum bat die Zunge zu zeigen. Dann sprangen alle anderen Ärzte von ihren Stühlen auf und betrachteten meine Zunge. Irgendwie erinnerte mich das an die Betrachtung eines Tieres im Zoo und im Nachhinein musste ich jedes Mal sehr über diese absurde Situation schmunzeln. Ich war ja vertraut mit den Diagnosemethoden der chinesischen Medizin und war dankbar, dass sie mich nicht erst aufschnippeln mussten, um zu sehen, was mit mir los war. Aber wann hat man schon die Chance neun Ärzten gleichzeitig die Zunge herauszustrecken!

Die Visiten waren immer eine ernste Angelegenheit. Alle waren hoch konzentriert mit Falten auf der Stirn und saßen still und aufmerksam vor ihren Notizblöcken, die eifrig beschrieben wurden, während ich mein Leid klagte. Bei der ersten Visite wurde ich gefragt, wie denn meine Infekte so abliefen und ob ich als Kind auch schon oft krank war. Da musste ich natürlich zugeben, dass ich als Kind äußerst häufig von Mandelentzündungen mit Fieber geplagt war. Außerdem fragten sie mich, was ich in den letzten Jahren genommen hatte wenn ich einen Infekt hatte. Die erste Frage war nach Nasentropfen und Schleimlösern. Auch das bestätigte ich stolz im Wissen, etwas für mich getan zu haben. Unerwarteter Weise gab es nur ein Raunen und Stirnrunzeln in der Ärzterunde, was ich mir in diesem Moment noch nicht erklären konnte. Die letzte Frage war, ob ich denn mit einem Infekt daheim geblieben war oder trotzdem weiter arbeiten ging. Ja, ich hatte mich immer pflichtbewusst zur Arbeit geschleppt, wenn es mir nicht gut ging. Wegen so ein bisschen Schnupfen und Halsschmerzen wäre ich doch nicht zu Hause geblieben. Alles wurde sorgfältig notiert und ich wurde wieder frei gelassen.

Ich behielt es lieber für mich, dass ich zwei Jahre zuvor ein sechsstündiges Probespiel um eine Konzertmeisterstelle mit Fieber absolvierte.

Am nächsten Tag erklärte mir meine Ärztin im Einzeltermin, wie wichtig es sei bei einem Infekt der oberen Luftwege die Körpersymptome nicht zu unterdrücken. Sie stellte auch meinen Irrglauben richtig, dass die Symptome mit den Viren oder Bakterien zusammenhingen. Nein, das waren die Abwehrmechanismen des Körpers. Wenn wir die mit Nasenspray, Schleimlösern und Fiebersenkern (ab 40 Grad Fieber sei das in Ordnung, aber es wird heutzutage viel früher genommen) unterdrücken, öffnen wir den „Angreifern“ Tür und Tor. Und der Schleim und das Zuschwellen der Schleimhäute hat ja den Sinn die Angreifer dort drin zu fangen und wieder auszuscheiden. Kein Schleim, keine Abwehr. Keine Anschwellung der Nasenschleimhäute, keine natürliche Barriere. So wie sie mir das erklärte, machte das für mich natürlich Sinn. Außerdem könnte das Immunsystem nicht richtig auf Hochtouren laufen, wenn man „nebenbei“ noch zur Arbeit geht. Schon der kleinste Termin lässt den Körper Kraftreserven für dieses noch anstehende Ereignis speichern, die dem Immunsystem aber bei der Abwehr fehlen.

Da überkam mich sogleich ein elendes Schuldgefühl gegenüber meinem Körper: ich hatte immer Nasenspray genommen, immer irgendwelche Schmerztabletten, Schleimlöser in mich hineingestopft, dass ich nur wieder gesund werden würde. Vom Weiterarbeiten will ich ja gar nicht sprechen. Ich habe nicht nur weitergearbeitet, sondern bin teilweise auch mit Infekt Fahrrad gefahren, wenn ich mich außer einem kleinen Schnupfen oder leichtem Halskratzen nicht schlapp gefühlt hatte. Und ich machte das alles, weil die Menschen in meinem Umfeld genauso handelten. Wie oft hieß es früh beim Kollegen begrüßen: „Ach, ich gebe Dir mal nicht die Hand, ich bin so erkältet.“ So war für mich das Arbeiten mit Infekt schon immer Normalität. Unhinterfragter Irrglaube – was alle machen ist normal. Diese Wahrheit, dass ich damit meinen Körper von seiner so notwendigen Immunreaktion abgehalten habe und schlimmer noch: allen Keimen mühelosen Einlass gewährt habe, stürzte mit einem Mal auf mich ein, dass ich am liebsten im Erdboden versunken wäre. Dazu kam noch, dass ich außerdem zur „Generation Antibiotika“ gehörte. Jeder Infekt in meinem Kindesalter wurde generell mit Antibiotika behandelt. Heutzutage weiß man, dass Antibiotika in lebensbedrohlichen Situationen ein Segen sind. Aber gegen Erkältungen und gar Viren sind sie absolut machtlos, ja sogar völlig kontraproduktiv. Und dass sie im Immunsystem nicht nur Gutes anrichten, das wird gerade herausgefunden. Aber dass ich davon reichlich zu mir genommen hatte und sich mein Immunsystem, was hier in der Klinik ein bisschen als eine Art „Lerncomputer“ dargestellt wurde, dadurch nicht weiterentwickeln und somit stärken konnte, leuchtete mir ebenfalls ein.

Abends auf dem Zimmer war ich sehr still. Ich war in mich gekehrt und war allein mit meinem Schuldgefühl gegenüber meinem Körper. Bis gestern war es genau andersherum. Ich fragte mich immer warum mein Körper nicht funktionierte. Rügte ihn dafür, warum er mir das antut. Verstand die Welt nicht und sagte mir immer nur „es muss doch nunmal werden!!!“ Aber an diesem Abend war mir klar, dass ich erst ganz am Anfang stand. Ich musste das Vertrauen meines Körpers zurückgewinnen, ich hatte ihn völlig verloren. Hatte unbewusst so stark gegen ihn gearbeitet und habe seine Energiereserven erschöpft. Auch wenn ich es aus Unwissenheit und mangelnder oder gar völlig falscher Aufklärung einfach nicht wissen konnte und auch für die vielen Antibiotikagaben meiner Kindheit nichts konnte. Aber ich spürte an diesem Abend das erste Mal, was mein Körper dadurch erlitten hatte und das über viele, viele Jahre und Jahrzehnte. Und es war nicht nur das Schuldgefühl, was mich in diesem Augenblick so schwer machte, es war auch die Kraftlosigkeit und Trauer meines Körpers, die ich zum ersten Mal verstand. Neben daringebliebenen Viren und Bakterien und den mangelnden Ruhezeiten, die ich ihm verwehrt hatte, hat er auch noch mit meinen „Hilfsmittelchen“ kämpfen müssen. Er konnte einfach nicht mehr und ich verstand es zum allerersten Mal.

Diese neue Erkenntnis lastete sehr schwer auf mir und ließ mich still, unendlich traurig und ehrfurchtsvoll vor meinem Körper werden. Seit diesem Abend wusste ich auch was es heißt, wenn die Chinesen sagen:

„Du hast Deine Mitte verloren!“

search previous next tag category expand menu location phone mail time cart zoom edit close