Inzwischen dokumentierte ich alle Rezepturen, die ich in der Klinik zum Kochen und Trinken erhielt. Die Therapie mit den chinesischen Arzneidrogen war das Hauptstandbein dieser Behandlungen. Im Internet fand ich eine Seite auf der man jedes einzelne „Kraut“ eingeben konnte und alles über die Wirkungsweise, das Temperaturverhalten und die Geschmacksrichtung sowie Anbau, Herkunft und Verarbeitung in Erfahrung bringen konnte. Der Begriff „chinesische Kräuter“ stimmt nur ansatzweise, denn es handelt sich hier vorrangig nicht um getrocknete Blätter sondern um Früchte, Stängel, Samen und vor allem Wurzeln.
Aus der klinikeigenen Apotheke bekam ich aller vier Tage – solange nichts an der Rezeptur verändert wurde – meine Papiertüte mit meiner Mixtur. In einem Kochkurs gleich zu Beginn meines Klinikaufenthaltes lernte ich die doch sehr aufwändige Zubereitung des Kräutersuds. Jeder Patient, der halbwegs allein auf den Beinen stehen konnte musste seinen Sud – das Dekokt – selbst kochen. Für alle anderen übernahmen das die Schwestern. Da es mir recht schnell besser ging konnte ich mich vor der Kochprozedur also nicht herumdrücken und stand für die Zubereitung meiner Medizin pro Rezeptur eine Stunde in der Patientenküche. Anstrengend wurde es, wenn meine Rezeptur geändert wurde und ich dann mehrmals kurz hintereinander kochen musste. Und da bei der Behandlung mit den Kräutern teilweise viel ausprobiert werden muss, war ich eigentlich fast jeden Tag am Kochen. Aber ich lernte, dass das Kochen auch Selbstfürsorge bedeutet und dem Körper zeigt, dass man sich jetzt mit allen Konsequenzen um ihn kümmert. Das sei bei der Heilung sehr wichtig, denn sehr viele unserer Krankheiten entstehen durch mangelnde Selbstfürsorge. Diesen Prozess umzukehren bedeutete den ersten Schritt zur Gesundung.
Je öfter ich meine Kräuter zubereitete, desto mehr wurde das für mich zu einer kultvollen Handlung. Und durch die starke Wirkung, die ich nach der Einnahme meines Dekoktes verspürte, bekam ich immer mehr Ehrfurcht und Achtung vor meiner Wurzelzusammenstellung. Nun schaute ich jeden einzelnen Bestandteil im Internet nach und verstand dadurch auch immer besser, wie die Ärzte mich behandelten. So war deutlich zu erkennen, dass alles über die Verdauung zu regeln sein musste. Ich hatte also viele verschiedene Schleimlöser, kräftigende und antivirale Kräuter, Körperflüssigkeiten nährende und sehr viele Kräuter zur Entgiftung und zur Entspannung der Leber.
Aber die Behandlung mit diesen Kräutern war nicht immer nur unterstützend. Eines Tages merkte ich wie ich immer reizbarer wurde. Ich bekam zwar richtig viel Kraft durch meinen Dekokt aber ich wurde regelrecht zu einer Furie. In der Visite, wo ich allen Ärzten wieder gleichzeitig mein Leid klagen konnte, sagte ich:
„Wenn ich nicht bald etwas anderes zu Trinken bekomme, gehe ich mit der Kettensäge durch die Klinik!“
Alles lachte und mir wurde versprochen, dass ich am Nachmittag etwas anderes bekäme. Nach dem ich diese neue Mischung gekocht hatte und sie mir auf meinem nachmittäglichen Spaziergang schluckweise einverleibte merkte ich, wie ich schon nach einer halben Stunde wieder sanfter wurde und die Welt nicht mehr so feindlich um mich herum erschien. Unglaublich war das! Was die Kräuter mit einem anstellen konnten!!! Und nach einer Stunde war ich wieder ganz die Alte ohne Zerstörungswut.
Nun konnte ich mir auch besser vorstellen, was der Chefarzt in einem Vortrag einmal erwähnte, dass eine falsche Rezeptur einen Menschen binnen weniger Stunden flach legen konnte.
Und so schön sind sie anzuschauen:
(eine kleine Auswahl der Schönsten)
Spatholobi Caulis – Ji Xue Teng
Scutellariae Radix – Huang Qin
Tribuli Fructus – Ji Li
Trichosanthis Radix – Tian Hua Fen
Uncariae ramulus cum uncis – Gou Teng
Atractylodes macrocephala Rhizoma – Bai Zhu
Liquidambaris Fructus – Lu Lu Tong
Magnoliae officinalis Cortex – Hou Po
Aurantii fructus immaturus – Zhi Shi
Poria – Fu Ling
In der Klinik wusste ich noch nicht, dass mich diese Kräuter noch sehr lange auf meinem Weg begleiten und meine Verdauung immer mehr stabilisieren würden.
Und sie waren stark genug, um mich vor einem erneuten Totalzusammenbruch zu bewahren, den ich seitdem nie wieder erleiden musste.